Jungenbüro Nürnberg

Wann ist ein Mann ein Mann?
Jungenbüro Nürnberg

Text Katharina Wasmeier, ELMA #13 Dez 2021

„Wann ist ein Mann ein Mann?“ ist eine Frage, die zwar nicht erst seit Herbert Grönemeyers 80er-Jahre-Hit gestellt, wohl aber in den vergangenen Jahren zunehmend diskutiert wird. Divers, vielfältig und wunderbar, jeder für sich ein sensibler Mensch, der nicht nur mit den ähnlichen Themen vieler Heranwachsender beschäftigt ist, sondern eben auch mit solchen, die wirklich nur Jungs angehen. In Nürnberg gibt es darum Bayerns einzige Anlaufstelle nur für Jungen und junge Männer.

400 Einzelfälle monatlich

Stress mit den Geschwistern und Streit in der Schule, die erste große Liebe, oder schon viel zu lange unfreiwillig Sexting, Opfer von Gewalt oder der eigenen Rollenbilder, oder die große Frage, wie das mit der echten Freundschaft eigentlich funktioniert – all diese Themen dürfen stattfinden hinter einer Glastür, die auf den ersten Blick ganz unscheinbar daherkommt.

Dass obendrüber laut und deutlich „JUNGENBÜRO“ steht, ist, sagen Stefan Bauer und Florian Jalsovec, Angebot, Aufforderung und Werbung gleichermaßen. „Vielleicht“, sagen die beiden Sozialpädagogen, „hilft es schon, wenn das jemand im Vorbeifahren sieht und sich merkt.“ Für dann, wenn es gebraucht wird. Und gebraucht werden sie und die anderen vom „Jungenbüro Nürnberg“ oft: 400 Einzelfälle verzeichneten sie fürs vergangene Jahr. Das bedeutet: 400 Mal haben Jungen oder junge Männer, aber auch deren Freunde oder Familienangehörige, Schulpsychologen oder Jugendamtsmitarbeiter Kontakt zum „Jungenbüro“ aufgenommen. Bei manchen ist es bei einem kurzen Anruf geblieben. Andere kommen regelmäßig persönlich vorbei. Alles ist möglich. Alles,was hier zählt, ist „der Junge und das, was für ihn am besten ist“.

Jungs versuchen ihr Themen alleine zu klären

Seit 2013 gibt es in der bayernweit einzigartigen Einrichtung des Kinder-, Jugend- und Familienhilfeträgers Schlupfwinkel e. V. Unterstützung, Ruhe und Sicherheit, die Betroffene sonst in der Form nicht finden. Weil Jungs und junge Männer ihre Probleme eh alleine klären? „Eben nicht“, sagt Stefan Bauer (50). „Jungs holen sich nur nicht so leicht Unterstützung, sondern versuchen lange, ihre Themen mit sich alleine zu klären.“ Das kann lange gut gehen – und irgendwann schrecklich knallen: „Die Suizidrate bei Jungen ist nicht ohne Grund um ein Vielfaches höher als bei Mädchen“, sagt Florian Jalsovec. Weil Jungen nicht schwach sein dürfen und Gefühle Schwäche sind. Weil Jungen tapfer sein müssen und stark, notfalls gewalttätig. Weil „Mann sein“ für Jungen immer noch bedeutet: Sei erfolgreich, verdiene Geld, habe Muskeln, sei souverän. Das transportieren einerseits Medien, so Jalsovec, andererseits seien „die Anforderungen an Männer oftmals umso traditioneller, je weniger Ressourcen Familien haben“. Soll heißen: Zeit, Geld, Zugang zu Bildung.

Was soll ein Junge überhaupt sein?

Das „Jungenbüro“ versucht, auszugleichen. Mit Workshops an Schulen oder Jugendzentren, mit Fortbildungen für Lehrer/innen oder Ehrenamtliche, vor allem aber: mit Beratung. Begleitung. Da sein. Sicherheit geben, Vertrauen schaffen. Zeit haben. „Die Themen“, sagt Stefan Bauer, der 2012 das Jungenbüro mitbegründete, sind so unterschiedlich wie es die Jungen sind. „Oft machen wir Basisarbeit“, sagt Florian Jalsovec. „Und bieten Alternativen an.“ Jungs, die sich für schwach halten, weil sie nicht gern schlägern, oder nicht erkennen, dass ihre Stärke das Zuhören ist. Jungs, die verliebt sind oder gemobbt werden, einsam sind oder verloren. Die nicht wissen, dass es „Malen“ gibt, und schon gar nicht, wie viel Spaß das macht. Deren Bewältigungsstrategie „Drüberstülpen“ ist: Sport, Saufen, Aushalten. Jungs, die gar nicht wissen, was ein Junge überhaupt sein soll – und auch nicht, ob sie denn eigentlich so sein wollen.

Vertrauen schaffen

„Vielen Jungen und jungen Männern fehlen reale männliche Vorbilder“, sagt Florian Jalsovec. Die daheim sind und da auch mal weinen, die „Stärke und Schwäche in der ganzen Bandbreite erlebbar machen“. Umso größer ist die Bandbreite der Themen, die im Jungenbüro behandelt werden – persönlich, telefonisch, online. Immer anonym, wenn gewünscht. „Manchmal kommen Jungen, die sitzen mit uns am Tisch und sagen nichts. Das mag komisch klingen, aber: Das reicht denen oft erstmal.“ Bei vielen geht es um Gewalterfahrungen. In der Schule, im Hort, „in Zwangskontexten, die man sich nicht aussuchen kann“. In der Familie. „Bei anderen ist das Thema: Ich übe Gewalt aus“, so Jalsovec, dann sind es oft Eltern oder Sozialarbeiter, die sich ans Jungenbüro wenden. Dann gilt es, Vertrauen zu schaffen. Aufzuarbeiten. Ursachen zu finden. Und Lösungen. Weiter zu vermitteln. Das Jungenbüro versteht sich weder als verlängerter Arm der Eltern noch als therapeutische Einrichtung. „Es geht darum, zu begleiten und den bestmöglichen Weg durchs Leben zu finden.“

Opferschutz und Freiwilligkeit

Nicht unbedingt mit Samthandschuhen, aber mit Fingerspitzengefühl – das vor allem beim anderen Schwerpunkt gefragt ist, mit dem sich die vier männlichen und zwei weiblichen Mitarbeitenden der Einrichtung oft beschäftigen: Rund 100 Betroffene sexualisierter Gewalt betreut und begleitet das Jungenbüro, „ein superschambesetztes Tabuthema“, sagt Stefan Bauer, denn hier geht es meist um Missbrauch im engsten persönlichen Umfeld. Ein bisschen auf dem Schoß sitzen, ein bisschen Streicheln. Ein bisschen Kuscheln. Ein bisschen mehr. Viel mehr. Und eine raffinierte Täterstrategie aus Vertrauen, Freundschaft und Erpressung. „Das macht die Einordnung oft extrem schwierig. Du checkst nicht, dass das Missbrauch ist.“ Was oft bleibt, sind Selbstzweifel, Traumata und Hilflosigkeit. Höchste Prämisse der Sozialarbeiter: Opferschutz und Freiwilligkeit. Letztere wird lediglich bei der Thematik sexuell übergriffige Kinder eingeschränkt, die „vor allem im Bereich Geschwister gesellschaftlich extrem tabuisiert ist. Und entsprechend ist extreme Unterstützung notwendig“, sagt Stefan Bauer.

Den ersten mutigen Schritt

Oft sind es aber die kleinen Stellschrauben im Leben von Jungs, die den Weg irgendwie krumm laufen lassen. Die Fragen „Wer bin ich, wer will ich sein, wo will ich hin?“. Die Schwierigkeiten zu Hause und in der Schule. Die Verwirrung um Liebe und Beziehung und Sexualität und Lust. Das kriechende Gift von Mobbing. Was auch immer es ist: „Wenn du dich bei uns meldest,
brauchst du deinen Namen nicht zu sagen“, verspricht das Jungenbüro. „Wir sprechen mit dir über das, was dir wichtig ist. Und wir erzählen niemandem davon, ohne dass du es weißt.“ Ein Versprechen, „hoffentlich den ersten mutigen Schritt, die Herausforderungen des Lebens nicht nur alleine lösen zu wollen, auch wenn es die Gesellschaft gerade von Männern immer noch häufig erwartet“. Dann ist ein Mann ein Mann.

Jungenbüro Nürnberg
Allersberger Straße 129
90461 Nürnberg
Tel. 0911 528 147 51
jungenbuero-nuernberg.de

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