Legasthenie
Wenn von Legasthenie die Rede ist, wird oft alles in einen Topf geworfen, egal ob Schwäche oder Störung, egal ob nur das Lesen oder auch das Schreiben betroffen ist. Umso schwerer ist es für Eltern, die vermuten, dass ihr Kind in diesen Bereichen Schwierigkeiten hat – sie erleben sich hier meist ziemlich verloren. Sätze wie „Das Kind muss sich nur mal richtig anstrengen“ oder „Muss man gesunde Kinder neuerdings immer absichtlich krankstempeln?“ machen es da nicht einfacher. Dabei ist LRS genau wie die Rechenstörung Dyskalkulie eine anerkannte Behinderung. Wird den Kindern nicht nachhaltig geholfen, kann das nicht nur ihre Schulkarriere, sondern ihr ganzes Leben beeinträchtigen. Umso wichtiger ist der Austausch mit anderen – zur eigenen Entlastung, aber auch um auf bereits bestehende Strukturen und Informationen zurückzugreifen. Denn oft sind es ganz einfache Maßnahmen, die das Kind in seinem Schulalltag unterstützen können.
Eine gute Informationsquelle ist der Bundesverband Legasthenie & Dyskalkulie e. V. Hier finden Eltern, aber auch Lehrer, Jugendliche und erwachsene Betroffene schnelle Hilfe. ELMA hat sich mit Annette Höinghaus vom BVL unterhalten und herausgefunden, dass die sogenannte Wortblindheit im Durchschnitt bundesweit in jeder Klasse ein Kind betrifft. Und damit eigentlich alle Kinder. (Anmerkung der Redaktion: Im Folgenden ist von einer gekoppelten Lese-/Rechtschreibstörung die Rede, beide Störungsbilder können aber auch einzeln auftreten.)
Zunächst einmal zum Begriff: Gibt es einen Unterschied zwischen Lese-/Rechtschreibschwäche und einer Lese-/Rechtschreibstörung?
Ja, einen großen. Die Schwäche entsteht durch äußere Umstände wie z. B. Fehlen im Unterricht, nicht ausreichende Unterrichtsdidaktik oder sprachliche Barrieren aufgrund von Migrationshintergrund. Die Störung hat aber nicht nur genetische, sondern auch neurobiologische Hintergründe. In bildgebenden Verfahren zeigt sich deutlich, dass bestimmte Hirnareale im Sprachzentrum nicht ausreichend „anspringen“, neuronale Vernetzungen fehlen. Und das ist vererbt: Hat ein Elternteil Legasthenie, dann liegt die Wahrscheinlichkeit beim Kind immerhin bei 50 Prozent, kann aber auch als Spontanmutation auftreten.
Wie erlebt ein Mensch mit LRS die „Textwelt“?
Vielleicht kennen Sie auch Wörter, bei denen Sie immer wieder kurz überlegen müssen, wie man sie schreibt. Rhabarber oder Rhythmus zum Beispiel. Stellen Sie sich jetzt mal vor, jedes Wort stellt eine solche Schwierigkeit dar. Aber ähnlich der Farbenblindheit, die beim Sehtest ja auch nicht auffällt, merkt das keiner, weil Sie ja in der Lage sind, die einzelnen Buchstaben zu lesen oder zu schreiben. Das Wort an sich können Sie aber nicht als Bild abspeichern, was sich daran zeigt, dass Sie innerhalb eines Textes ein und dasselbe Wort in verschiedenen Varianten schreiben. Sie erfinden es sozusagen immer wieder neu.
Unser Schulsystem ist aufgebaut auf Lesen und Textverständnis. Das heißt, ein von LRS betroffenes Kind hat nicht nur in Deutsch Schwierigkeiten, sondern zum Beispiel auch bei Textaufgaben in Mathe. Müsste das den Lehrern nicht ziemlich schnell auffallen?
Die Schwierigkeit ist, dass wir sehr inhomogene Klassenzusammensetzungen haben. Manche Kinder können bereits lesen, wenn sie in die Schule kommen, andere haben nicht einmal einen Kindergarten besucht. Die Bandbreite ist hier inzwischen sehr groß – und das derzeit praktizierte „Schreiben wie gehört“ führt zusätzlich dazu, dass es manchmal erst relativ spät auffällt, dass etwas nicht stimmt.
In der Schule wird bei anerkannter LRS ein Nachteilsausgleich gewährt. Wie sieht der aus?
Am häufigsten gewährt wird eine Zeitzugabe. Hilfreich sind auch gut und übersichtlich gestaltete Arbeitsblätter in Kombination mit entsprechend großer Schrift und Vorleseassistenz. Später kommen technische Hilfsmittel wie Laptop mit entsprechender Software dazu. Man kann das mit einer Brille vergleichen: Sie ist der Nachteilsausgleich für eine Beeinträchtigung des Sehens, und ähnlich sind alle Formen des Nachteilsausgleiches auch bei LRS zu sehen. Denn lernen muss man trotzdem selbst.
Studien zeigen: Kinder mit Legasthenie entwickeln deutlich häufiger psychische Störungen – liegt das an negativen Erfahrungen aufgrund der Legasthenie?
Bei rund 40 Prozent der Kinder entwickeln sich tatsächlich durch den seelischen Druck sogenannte psychosomatische Folgeerkrankungen – schließlich werden die Kinder täglich mit ihrem „Nichtkönnen“ konfrontiert, irgendwann zweifelt man da natürlich an seinen eigenen Fähigkeiten, hält sich für dumm, gibt sich die Schuld. Unsere Dienstleistungsgesellschaft verstärkt diesen Druck noch, genau wie unser Schulsystem, das eher schwächenorientiert arbeitet, statt das Selbstwertgefühl und die Persönlichkeitsentwicklung zu fördern.
Spielt Mobbing auch eine Rolle?
Wir arbeiten seit 1974 daran, Legasthenie und Dyskalkulie bekannt zu machen. Doch trotz aller Aufklärung hat sich nicht wirklich mehr Verständnis entwickelt. Die Kinder und Jugendlichen werden nach wie vor durch Mitschüler, aber auch durch Lehrer gemobbt. Dabei sind die Begabungen und die Intelligenz genauso ausgeprägt wie bei allen anderen, und mit den richtigen Hilfsmitteln ist es sogar möglich, so textlastige Fächer wie Jura zu studieren. Erschwerend kommt hinzu, dass eine Störung wie LRS oft noch von anderen Problemen begleitet wird. Rund 30 Prozent der Kinder haben zum Beispiel Dyskalkulie, andere leiden zusätzlich unter ADHS.
Was wäre die Lösung?
Man muss genau hinsehen, denn nur mithilfe einer frühzeitigen Diagnostik durch einen erfahrenen Kinder- und Jugendpsychiater ist auch die richtige Therapie möglich. Aber natürlich sind auch die Schulen in einer verzwickten Situation: zu volle Klassen, zu wenig Lehrer. Trotzdem kann die Konsequenz nicht sein, dass Kinder keine individuelle Förderung bekommen. Unser Vorschlag ist, gut qualifizierte Lerntherapeuten in die schulische Förderung einzubinden, was leider immer wieder an formalen Rahmenbedingungen scheitert. Von den Eltern wird dann verlangt, das privat zu stemmen. Aber nicht jede Familie hat monatlich 250 bis 300 Euro für individuelle Lerntherapie übrig. Umso wichtiger ist gezielte Leseförderung, sind Netzwerke, auch ehrenamtliche, die unterstützen. Sie können nicht die Probleme lösen, aber allein schon, wenn Freude am Lesen geweckt wird, wird so manche Blockade aus Verzweiflung im Keim erstickt.
Legasthenie wächst sich nicht aus, zieht sich stattdessen wie ein roter Faden durch Schule, Ausbildung und Berufsleben. Häufig bleiben Menschen mit LRS hinter ihren beruflichen Möglichkeiten zurück. Auf der Seite des BVL kann man unter anderem ein Beiblatt zu einer Bewerbung herunterladen, aber wie reagieren künftige Arbeitgeber?
Oft sind die Arbeitgeber in stark technischen oder handwerklichen Berufen toleranter als in kaufmännischen. Aber unserer Erfahrung nach kommt es darauf an, wie souverän die Bewerber damit umgehen. Wenn sie direkt Lösungen parat haben, wie zum Beispiel eine Korrektursoftware, dann sind die Reaktionen vonseiten der Arbeitgeber häufig positiv. Und dann ist es auch möglich, eine Ausbildung im Traumberuf zu machen.
Text: Simone Blaß
Der BVL bietet Ratsuchenden neben seiner ausführlichen Website bvl-legasthenie.de mit vielen Infos zu den Themen Legasthenie und Dyskalkulie ein Beratungstelefon. Die Nürnbergerin Sandra Frisch beantwortet hier alle Fragen immer dienstags und mittwochs zwischen 10 und 12 Uhr unter 0228/38755054.