Wutanfälle und Autonomie bei Kleinkindern

Der Rouge-Test

Der Rouge-Test - Was ein roter Farbtupfer mit der Autonomieentwicklung zu tun hat

Das Experiment:
Ein bis zwei Jahre alte Kinder scheinen fasziniert von ihrem eigenen Spiegelbild zu sein. Sie schauen interessiert, lächeln oder zeigen mit dem Finger darauf. Aber erkennen die Kleinen auch, dass sie dort selbst zu sehen sind? Dieser Frage lässt sich mit einem simplen und doch ziemlich einfallsreichen Test nachgehen: Ohne dass die Kinder etwas bemerken(!), wird ihnen ein Klecks Farbe auf die Nase getupft. Fasst sich das Kind beim Anblick in den Spiegel an die eigene Nase? Dann hat es einen wichtigen Meilenstein vollbracht – es hat ein ICH-Bewusstsein entwickelt!

Selbst Bewusstsein

Dieser Versuch mit dem kleinen roten Farbtupfer (daher der Name des Tests) verdeutlicht einmal mehr, dass Kinder die Welt grundlegend anders begreifen als Erwachsene! Kinder unter anderthalb Jahren erkennen sich noch nicht im Spiegel. Sie sind sich ihrer selbst noch nicht bewusst. Vielmehr halten sie das eigene Spiegelbild für einen spannenden Spielpartner und sind in dieser Hinsicht auf dem kognitiven Niveau eines Wellensittichs. Doch irgendwann kommt er, der Moment, in dem jedes Kind bemerkt: Huch, da ist ja ein Fleck in meinem Gesicht! Eine Erkenntnis mit weitreichenden Folgen. Denn von nun an beginnen die meisten Kinder, von sich selbst zu sprechen. Nach einer meist putzig anmutenden Abwandlung des eigenen Vornamens folgen neue Lieblingswörter wie „meins“. Doch damit nicht genug. Mit dem „Ich“ kommt das „Ich will“ – und das ist nicht etwa Zufall. Denn der „bestandene“ Rouge-Test läutet die Autonomiephase ein, und das heißt für Eltern oft: Augen zu und (tief) durch(atmen)!

Autonomie - "ich will"

Studien verdeutlichen den Zusammenhang zwischen „sich selbst erkennen“ und „selbst machen wollen“. Kinder, die den roten Fleck noch nicht mit ihrer eigenen Nase in Verbindung bringen, empfinden genauso viel Freude, wenn ihre Eltern einen Bauklotzturm bauen, wie wenn sie dies selbst tun. Kinder, die sich bereits im Spiegel erkennen, freuen sich viel mehr über ihr eigenes Erfolgserlebnis. Sie sind stolz, den Turm selbst fertig gebaut zu haben. Doch dieses Autonomiebestreben hat auch eine Kehrseite, und zwar dann, wenn der Turm einstürzt oder die Eltern in guter Absicht helfen wollen. Nun ist der Frust oft groß und endet nicht selten in einem heftigen Wutanfall. Was tun? Auch wenn es uns nichtig erscheint, für das Kind bricht eine Welt zusammen.

Wut bändigen

Versetzen wir uns daher am besten in dessen Lage. Wer einen umgefallenen Turm partout übertrieben für derart heftige Emotionen findet, probiert es am besten anhand des folgenden Beispiels: Sie sind gerade richtig sauer auf Ihren Partner und erklären ihm wütend Ihr Problem. Wie fühlt sich da ein „Reg dich ab!“ oder „Jetzt übertreib mal nicht“ an? Wenig hilfreich, oder? Gefühle kleinreden, scheint also nicht das Mittel der Wahl zu sein, um Wut zu bändigen. Jesper Juul ist in solchen Situationen Verfechter eines „wohlwollenden und von Sympathie getragenen Schweigens“. Das ist eine präsente und empathische Haltung, die Kindern alle Gefühle zugesteht. Klingt großartig, aber wie klappt das in der Praxis, etwa wenn sich der Wutzwerg gerade vor versammelter Mannschaft im Supermarkt auf den Boden wirft? Wir können in solchen Situationen nur bei uns selbst anfangen: Ruhig bleiben, tief durchatmen, in Gedanken zählen oder an etwas Schönes denken.

Vom Trotz zur Autonomie

Oft hilft auch das Wissen, dass wir kein Einzelfall sind. Vorbeilaufende Eltern sind vermutlich nur froh, dass es gerade nicht ihr Kind trifft. Kurze und klare Sätze mit wohlwollender Mimik und Gestik helfen einem Kleinkind in Rage mehr als ausschweifende Erklärungen. Einige Beispiele: „Ich verstehe, dass du gerne den Schokoriegel hättest.“ (= Bedürfnis ernst nehmen) – „Ich kaufe ihn dir nicht.“ (= Nein kommunizieren) – „Soll ich dich bis zur Kasse tragen oder wollen wir draußen die Wut rausstampfen?“ (= Strategien zum Umgang mit Wut oder Traurigkeit anbieten). Nachgeben und den Riegel doch schnell kaufen, ist verlockend (und ab und an erlaubt, etwa wenn der Chef ebenfalls an der Kasse steht oder der eigene Stresspegel ins Unermessliche steigt), langfristig aber ein Schuss ins eigene Knie. Die Erkenntnis, dass ein „Nein“ bewältigbar ist und Wutanfälle vorübergehen, hilft Kindern dabei, auch im späteren Leben mit Niederlagen umzugehen, und fördert deren Selbstwirksamkeit.
Das heißt: Stolz, aber auch Frust und Enttäuschung sind wahnsinnig wichtige Gefühle, um sich selbst besser kennenzulernen. Und für Eltern gilt: Jeder Gefühlsausbruch ist ein Vertrauensbeweis – vielleicht hilft dieses Kompliment als Mantra durch diese mitunter recht anstrengende Phase der Autonomieentwicklung.

Text: Elisabeth Rose ELMA #16, Juni 2022

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