Ernährung als Unterrichtsfach

Großer Plan und krachendes Scheitern
Kinder beim Gemüsegärtnern

„Eine bewusste und gesundheitsförderliche Ernährung leistet einen wichtigen Beitrag zur Erhaltung der eigenen Gesundheit. Der Themenkomplex Ernährung ist daher umfassend im bayerischen Bildungssystem verankert.“ Und damit in den Lehrplänen schriftlich fixiert. Von der ersten Klasse an lernen alle Kinder, was ihnen guttut und was nicht. Trotzdem sind laut RKI derzeit knapp 10 % der Kinder und Jugendlichen zwischen 3 und 17 Jahren, zwei Drittel der Männer und die Hälfte der Frauen übergewichtig. Warum?

Ernährung steht auf dem Lehrplan

„Eigentlich ist das vom Lehrplan her ganz schlau gemacht“, erzählt Melanie Gauch (Name v. d. Red. geändert). Die 42-jährige Lehrerin unterrichtet an einem sonderpädagogischen Förderzentrum in Nürnberg. Seit bald 20 Jahren vermittelt sie Kindern ein Bewusstsein für den eigenen Körper und befähigt sie zu einer gesunden Lebensweise. „,Gesundheitsförderung‘ sowie ,Alltagskompetenz und Lebensökonomie‘ gehören zu den schulart- und fächerübergreifenden Bildungs- und Erziehungszielen des LehrplanPLUS“, so das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus (StMUK). Von der ersten bis zur zehnten Jahrgangsstufe sind Themen des Handlungsfeldes Ernährung festgesetzt: Lebensmittel und deren Inhaltsstoffe, gesundes Frühstück und Pausenbrot sollen genauso nahegebracht werden wie die Reflexion des eigenen Ernährungsverhaltens oder Genussmittel. In der Grundschule, an der sich auch die Eingangsstufe des sonderpädagogischen Förderzentrums orientiert, soll „richtige Ernährung behandelt“ werden.

Wer engagiert sich?

„Der Lehrplan lässt uns hier viel Freiraum“, sagt Melanie Gauch. Das bedeutet: Es steht nur fest, was behandelt werden soll, aber nicht, wie viele Stunden genau darauf verwendet werden. Melanie Gauch verwendet viel Zeit darauf. „Wir können viele tolle Dinge machen“, sagt die Lehrerin. Gemeinschaftlich kochen und frühstücken, Bauernhöfe besuchen oder Lernfarmen – es sei allen Lehrern klar, dass es sich hierbei um ein wichtiges Thema handle. Aber es gehöre eben auch ein gewisser Willen zur Eigeninitiative dazu. Wer mit den Kindern Gemüsesuppe kocht, schleppt von daheim den Hausrat mit. Wer zum Bauernhof ausfliegen möchte, muss herausfinden, welcher dafür überhaupt zertifiziert ist.

Und wie ernähren sich Kinder zuhause?

Der Freiraum, den der Lehrplan lasse, sei auch deshalb wichtig, weil nicht alle Kinder gleich sind. Schon gar nicht deren Familien. Und hier kommt das Hauptproblem: „Ich kann den Kindern alles beibringen, alle Grundlagen schaffen, aber der größte Einfluss kommt von daheim. Dann hat das Kind Eistee und Nutellatoast dabei und fängst wieder von vorne an.“ Eine Einbeziehung der Eltern finde nicht zufriedenstellend statt. „Ich kann zum Elternabend einladen und über das Pausenbrot reden. Aber nur sehr, sehr sensibel, schließlich wissen Eltern immer am besten, was gut für ihre Kinder ist.“ Man könne den Kindern viel Kompetenz mitgeben, aber wenn die Eltern nicht mitmachen, „dann geht es nicht“.
Als erschwerend empfindet die Lehrerin auch die gängige Praxis des Pausenverkaufs. „Hier gibt es eine massive Diskrepanz zwischen dem, was ich vermittle, und den angebotenen Lebensmitteln. Wenn die Kinder sehen, es gibt eine Viertelpizza, dann greifen die garantiert nicht zu den Obsttüten.“ Das Angebot hier sei Sache der Schulen und des Hausmeisters, so ein Mitarbeiter des Nürnberger Schulreferats. Ein Angebot, das auf die Nachfrage reagiert – und an die Hand gegeben ist von jemandem, der Geld damit verdienen muss, vermutet Melanie Gauch. Wie sinnvoll das ist, sei dahingestellt. „Wir haben das bei uns im Kollegium oft diskutiert, aber Konsequenzen gab es bislang keine.“ Dafür Zuckerwatte.

Lebensmittel "für Kinder" sind meist ungesund

Wenn so schon die Schule funktioniert, wie mag es dann erst draußen zugehen? Kurios. Denn während das Bundesgesundheitsministerium beispielsweise schon seit 2015 einen ellenlangen Maßnahmenkatalog zum „Förderschwerpunkt Prävention von Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen“ präsentiert und Ernährung als eine der Hauptursachen identifiziert, gibt hierzulande ein anderes Schwergewicht den Ton an: „Für Kinder beworbene Lebensmittel sind in den vergangenen sechs Jahren kaum gesünder geworden. Trotz freiwilliger Selbstverpflichtungen der Industrie und einer Reduktionsstrategie des Ernährungsministeriums enthalte ein Großteil der an Kinder vermarkteten Produkte zu viel Zucker, Salz und Fett“, meldete im Sommer letzten Jahres das Ärzteblatt unter Berufung auf eine Veröffentlichung der Verbraucherorganisation Foodwatch. „Produkte, die mit Comicfiguren, Online-Gewinnspielen und Spielzeugbeigaben an Kinder beworben werden, sind in erster Linie Zuckerbomben und fettige Snacks“, heißt es da weiter. An Kinder gerichtete Werbung für Dickmacher sei kein Kavaliersdelikt, sondern eine Gefährdung der kindlichen Gesundheit, so eine Sprecherin der Deutschen Diabetes Gesellschaft. Zudem, warf Berthold Koletzko von der Stiftung Kindergesundheit der Bundesregierung vor, erreiche diese Strategie schwächer gestellte Familien nicht. „Das ist ethisch nicht vertretbar.“

Der Einfluß der Zuckerlobby

Ein Umstand, den auch Melanie Gauch aus ihrem Berufsalltag kennt. „Für bildungsferne und finanziell schwächer gestellte Familien ist Ernährung und Zucker meistens kein Thema, da gibt es Wichtigeres“, beobachtet die Lehrerin. Dass ihre Arbeit mehr ist als nur ein Tropfen auf dem heißen Stein, wünscht sie sich. „Irgendwas nehmen die Kinder hoffentlich mit, was sie später brauchen.“ Allein dieses „später“ ist meist stärker, „sie vergessen davon vieles wieder.“ Später, wenn das Ü-Ei das coolste ist und der Burger der beste, wenn Cola offenbar nicht nur sexy macht, sondern auch noch Durst löscht, und immer alles frei und billig verfügbar ist. „In einer idealen Welt würden Eltern stark mit in die Bildungspflicht genommen, um diesen Kreislauf irgendwann zu durchbrechen“, meint Melanie Gauch.

Bis das passiert, bleibt die Hoffnung: „Die Gesundheit der Verbraucher/innen und vor allem die der Kinder muss über die Lobby-Interessen der Konzerne gestellt werden“, forderte Foodwatch noch im November letzten Jahres. Diese Zuckerlobby macht seit Jahren mit Falschaussagen von sich reden: Zucker mache weder dick noch krank, Steuern seien wirkungslos oder die Quelle der Kalorien sei nicht ausschlaggebend. „Die Zuckerindustrie macht es wie früher die Tabak-Konzerne: Mit haarsträubenden Falschaussagen täuscht sie die Öffentlichkeit, um unliebsame politische Maßnahmen zu verhindern oder zu verzögern“, so Foodwatch. „Viel zu lange hat die Industrie durch geschickte Lobbykampagnen verhindert, dass die Bundesregierung entschlossen gegen Fehlernährung und ernährungsbedingte Krankheiten vorgeht.“

Die Politik ist gefragt

Die alte Bundesregierung sei mit ihrer Strategie der Freiwilligkeit krachend gescheitert, die neue müsse eine Kehrtwende einleiten. Das hatte sie zumindest vor: Im Koalitionsvertrag festgeschrieben war die Einführung einer Zuckersteuer für Erfrischungsgetränke und ein Verbot von an Kinder gerichteter Werbung für ungesunde Lebensmittel. Ersteres ist bereits gecancelt. Wie es mit dem zweiten Punkt weitergeht, bleibt abzuwarten. Bis dahin machen Melanie Gauch und ihre Kolleginnen und Kollegen weiter: In der dritten und vierten Klasse steht Medien- und Werbe-Erziehung auf dem Lehrplan. Immerhin.

Text: Katharina Wasmeier, ELMA #14, Februar 2022

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