Geschwisterkinder - welchen Einfluss hat die Reihenfolge?

Sandwichkind, Entthronungstrauma, Nesthäkchen – für immer?
Geschwisterkonstellationen

Die Aufgabenstellung schien mir so leicht zu sein: „Beeinflusst die Reihenfolge der Geburt die Persönlichkeit von Geschwisterkindern?“ war eine Frage, die ich als ältestes von drei Kindern und Schwester zweier Brüder mit größter Überzeugung und einem unerschütterlichen „Ja!“ beantworten konnte. 40 Jahre Feldstudie konnten nicht irren. Daraus einen journalistischen Artikel zu schreiben – gar kein Problem, schließlich hatte man ja genug zum Thema gehört sowie gelesen und nicht zuletzt im Umfeld ausreichend Beispiele, die die These wort- und manchmal sogar tränenreich zu unterfüttern wussten.

Geschwisterkonstellationen

Seitdem ich denken kann, bin ich die große Schwester. „Entthronungstrauma, Sandwichkind, Nesthaken“ sind Worte, die mich konsequent begleiten sowie eine liebevoll-neckende Charakterisierung unserer Mutter für drei Kinder, die das Kunststück vollbringen, gleichzeitig maximal verschieden und einander extrem ähnlich zu sein, die aneinanderkleben wie Pech und Schwefel und sich dabei irre auf die Nerven gehen. Und die mit den Jahren eine Rollenverteilung weitestgehend akzeptiert haben, die so oder mindestens so ähnlich reproduzierbar in vielen anderen Familien in meinem Umfeld beobachtet werden kann.

So wie Einzelkinder, und das meine ich völlig wertfrei, einfach nicht verstehen, was es bedeutet, als Geschwisterkinder aufzuwachsen, so finde ich mich selbst in Freundinnen, die selbst älteste von dreien sind. Erkenne Eigenschaften an Zweit-, Letzt- oder Mittelgeborenen und mich im Umgang mit denen sofort in altbekannter Rolle wieder. Das war nicht immer einfach, aber auch nicht weiter schlimm, und wenn es so viele von uns gibt, dann umso besser – lassen wir uns das doch mal von Fachleuten erklären. Dachte ich.

Was prägt den Menschen in der Kindheit?

Ein solcher Fachmann ist der US-amerikanische Psychologe Frank Sulloway. Ende der 1990er Jahre untersuchte er Geschwister und deren Psyche und kam zu Ergebnissen, die unsere Auffassung hierzu bis heute festigen. Nur: Alles Humbug und falsch untersucht, ist die Wissenschaft sich heute einig. Denn: Zwar beeinflusse die Position in der Geschwisterreihe die Entwicklung der Kinder – doch genau so wichtig sind beispielsweise die finanziellen Verhältnisse der Familie, die Beziehung zu Eltern, Großeltern oder Freunden, kulturelle Werte oder schlichtweg der Altersabstand. Ist es also eher das, was mich und meine „Artgenossen“ eint? Die Akademikerkinder aus der Mittelschicht? Auch.

Geschwisterrivalität

Vor allem aber eint uns sehr wahrscheinlich eine nicht zwingend aggressive, aber doch ausgeprägte Rivalität zu den Geschwistern. Denn, hier zumindest ist die Forschung sicher, das ist allen Kindern gleich: Der urzeitliche Kampf ums Überleben in der Sippe, wofür Fürsorge und Aufmerksamkeit der Eltern unabdinglich wird. Und um die jedes Kind erbittert buhlt. Wie es das tut, prägt freilich die Persönlichkeit, denn ein jedes sucht sich seine Nische – und wenn ein zweites Kind den Weg der größtmöglichen Lautstärke wählt, kann es gut sein, dass das Erstgeborene dann leise wird. Und das auch später tut, wann immer jemand lauthals schreit.
Je geringer der Altersabstand, desto größer ist die Rivalität – aber auch die Nähe. Aus der Tierwelt kennen wir das längst: Der Konkurrenzkampf ist hier oft so ausgeprägt, dass Küken ihre Geschwister aus dem Nest stoßen oder gleich zerhacken, Ferkel dank spezieller Milchzähne den Run auf die beste Zitze gewinnen. Das ist nicht brutal, sondern Natur.
Es gibt freilich Tendenzen in der Rollenverteilung, die durchaus wissenschaftlich bestätigt sind: Erstgeborene sind Vorbild für Jüngere, haben mehr Pflichten, tragen mehr Verantwortung, bestimmen öfter und sind auch als Erwachsene noch dominant. Die Zweiten wollen gerne so sein wie die Erstgeborenen, die Mittelkinder passen sich an und sind diplomatisch. Die Kleinen haben zu Beginn erstmal das Nachsehen, dafür aber immer jemanden zur Stelle, der hilft.

Elternrollen

Vor allem aber gibt es eine Umwelt, die sich ändert – allem voran die Eltern. Die sind erst jünger und dann älter, unsicherer und belastbarer, finanziell gutgestellt oder in Sorge. Sie sind ängstlicher und erfahrener oder haben schlichtweg vom einen zum anderen Kind viel weniger Zeit. Als Erstgeborene mit berufstätiger Mutter war ich selbst zwar in den ersten Lebensjahren auch in Betreuung, am Nachmittag aber gehörte mir allein die volle Aufmerksamkeit. Sowohl was Fürsorge, Beschäftigung und Liebe, aber auch, was Strenge angeht.
Der kleinste Bruder, immerhin knapp zehn Jahre jünger als ich, war überall einfach dabei, kam schnell alleine klar und wie ein Wunder nicht ums Leben bei allerlei waghalsigen Aktionen. Ist er deswegen per se mutiger? Eher nicht. Aber ohne strenges Elternauge, dafür nach Vorbild älterer agieren zu können, macht halt einfach flotter. Egal wie alt er heute ist – er wird für mich immer ein Baby bleiben, für das ich Sorge trage, auch wenn ich mich heute beherrschen kann und ihm nicht mehr in aller Öffentlichkeit den Schal ordentlich binde (naja, meistens). Und: So vehement Eltern sich dagegen auch aussprechen werden – sie behandeln niemals alle Kinder gleich.

Geschwister als erste soziale Gruppe

Geschwister bilden die erste soziale Gruppe, in die wir uns einfügen müssen. Hier streiten, lieben, lernen, üben wir Verhaltensweisen, die uns unser Leben lang begleiten. (Kita & Co. leisten übrigens das gleiche, der Kontakt zu Gleichaltrigen ist auch für die Entwicklung von Einzelkindern ausschlaggebend.) Für ältere Geschwister geht oft eine bestimmte Rolle einher so wie die Jüngeren ihrem Vorbild nacheifern. Und was auf jeden Fall bestehen bleibt: Das typische Verhalten, das wir uns als Kinder angeeignet haben, bleibt auch im Erwachsenenalter meist bestehen – zumindest innerhalb der Familie. Brennglas dafür ist, wen wundert’s, Weihnachten: Ich weiß jetzt schon, wer meine Mutter am meisten entlasten wird, wer mit Papa Allianzen schmiedet und am meisten lacht. Ich weiß, auf wessen Entscheidung wir am längsten warten werden und wer irgendwas verschludern, aber mit süßem Grinsen Vergebung finden wird. Ich weiß, wer für Weihnachtspullis und irgendein Special sorgen wird und auch, wer am Ende für die beste Unterhaltung sorgt.

Es ist also weniger die Position als solche als vielmehr die Umstände, die die Persönlichkeit prägen. Und die sind so verschieden wie es wir Menschen sind. Die Familien, in denen wir aufwachsen. Die Antwort auf die Frage, ob die Reihenfolge bei der Geburt die Persönlichkeit bestimmt, darf wohl weiterhin „Ja!“ lauten. Aber diese Persönlichkeit ist von Familie zu Familie verschieden. Auch wenn sie sich dann doch irgendwie ähneln. Vielleicht ist es ja gar nicht wichtig, ob die Rollen immer gleich sind. Sondern nur, dass wir sie verstehen – und im besten Fall unseren Frieden damit machen können.

Text: Katharina Wasmeier

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